Dieser Artikel widmet sich den ethischen Fragen in Verbindung mit unserer Wahlprognose. Generell gilt für unsere Prognose dasselbe wie für alle Prognosen im sozialwissenschaftlichen Bereich. Der Vorwurf lautet oft, dass allein das Erstellen und Publikmachen einer Prognose die Wahl beeinflussen kann. In den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Fall von „selbsterfüllenden Prophezeiungen“ (self-fulfilling prophecy) oder „selbstzerstörenden Prophezeiungen“ (self-defeating prophecy).
„Die selbsterfüllende Prophezeiung ist anfänglich eine falsche Bestimmung der Situation, sie verursacht ein neues Verhalten, das bewirkt, dass die ursprünglich falsche Auffassung richtig wird. Die vordergründige Gültigkeit der selbsterfüllenden Prophezeiung führt eine Herrschaft des Irrtums fort. Denn der Prophet wird den tatsächlichen Gang der Dinge als Beweis dafür anführen, dass er von Anfang an recht hatte“ ([1] S. 193f.). Etwas später definiert Merton auch die gegensätzliche Theorie: „Das Gegenstück der selbsterfüllenden Prophezeiung ist die ‚suizidale Prophezeiung‘. Sie ändert das menschliche Verhalten im Vergleich zu dem Weg, den es ohne die Prophezeiung genommen hätte, auf eine Weise, dass sie sich nicht erfüllt“ ([1] S. 196). Das tieferliegende Phänomen ist, dass in Sozialwissenschaften schon die Erforschung eines Forschungsgegenstandes und neues Wissen über diesen den Forschungsgegenstand verändern können. Dies steht prinzipiell im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (Quantenphysik evtl. ausgeschlossen).
Merton formulierte seine Theorie im 20. Jahrhundert, begründet und belegte sie mit Beispielen. Zur Verdeutlichung der Problematik hier zwei seiner Beispiele: Im Amerika des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts hatten viele Angehörige der weißen Arbeiterklasse gegenüber Schwarzen das Vorurteil, diese seien „Verräter an der Arbeiterklasse“, weil sie als Lohndrücker am Arbeitsmarkt aufträten. Daher sollten diese auch von der Mitgliedschaft in Gewerkschaften ausgeschlossen werden. Dieses Vorurteil wirkt dann aber als eine Prognose, die sich selbst erfüllt. Denn dadurch, dass Schwarze von der Gewerkschaftsmitgliedschaft ausgeschlossen werden, sind dieselben praktisch dazu gezwungen, sich als Lohndrücker zu betätigen. (vergleiche [1], S.196ff.). Ein weiteres Beispiel ist der Placebo Effekt bzw. dessen Gegenteil der Nocebo Effekt, bei dem der Glaube an die Wirkung (oder Schädlichkeit) eines Medikamentes diese herbeiführt.
Gegeben der Problematik, stellt sich die Frage wie wir mit dieser Verantwortung umgehen. Schließlich könnten wir die Wahlbeteiligung beeinflussen, indem Sympathisanten von Parteien die wir als Gewinner prognostizieren nicht zur Wahl gehen, weil sie dies nicht mehr für nötig erachten. Oder Sympathisanten von prognostizierten Wahlverlierern könnten überproportional zur Wahl gehen, um ein besseres Abschneiden ihrer jeweiligen Parteien herbeizuführen. Des Weiteren könnten Parteien unsere Prognose nutzen um unsichere Sitze, durch einen lokal forcierten Wahlkampf, zu stärken.
Diese Vorwürfe erhielten in den vergangenen Jahren im Rahmen von „Camebridge Analytica“, dem Brexit Votum und der Wahl Trumps zum Präsidenten noch einmal Rückenwind. Es gab viele Stimmen nach den Wahlen, die eine Teilschuld am Ergebnis bei den (im Nachhinein nicht erfüllten) Prognosen sahen (vergleiche [2]). Wie gehen wir also mit diesen Vorwürfen bzw. der Verantwortung um? Zunächst lässt sich feststellen, dass es in Deutschland schon strenge Regeln zu Wahlumfragen- und Prognosen gibt. So dürfen bspw. keine Umfragen zum tatsächlichen Wahlverhalten vor Schließen der Wahllokale publik gemacht werden, um das Wahlverhalten nicht zu beeinflussen. (vergleiche [3]) außerdem gilt eine Sperrfrist von einem Tag vor der Wahl für Prognosen und Umfragen. Auch wir halten uns an diese Fristen und Auflagen.
Des Weiteren gibt es bisher keine stichfesten empirischen Indizien, dass es einen Zusammenhang von Wahlprognosen und Wahlverhalten gibt, die selbsterfüllende Prophezeiung also auf Wahlprognosen zutrifft. Es gibt Studien die einen solchen Zusammenhang bescheinigen und Studien die keinen finden können, keine Ansicht ist bisher in der klaren Mehrheit (vergleiche [3]). Daher ist es streitbar, wie weit der Einfluss von Wahlprognosen tatsächlich geht. Allerdings, sind wir uns des Problems und der ethischen Problematik bewusst und versuchen verantwortungsvoll mit dieser umzugehen. Daher können wir nur dazu appellieren unser Modell nicht als Grundlage für euer tatsächliches Wahlverhalten zu nutzen. Prinzipiell sollte jede Bürgerin und jeder Bürger ihre Pflichten und Privilegien wahrnehmen, zur Wahl gehen und dort der Partei ihre Stimme geben, die ihres Wissens und Gewissens nach die beste ist. Außerdem sind Prognosen, wie im Artikel Risiko und Unsicherheit beschrieben, immer mit äußerster Vorsicht zu genießen, und sollten daher generell nicht als Entscheidungsgrundlage für das Wahlverhalten genutzt werden.
Was wir mit diesem Projekt bewirken wollen ist nicht die Beeinflussung von Wahlen, sondern einerseits das Schließen einer Wissenslücke, da es auf kommunaler Ebene bisher keine flächendeckenden Prognosen gibt. Andererseits wollten wir einfach ausprobieren wie gut wir Vorhersagen überhaupt durch rein statistische Methoden treffen können. Außerdem können einige unserer Autoren die Daten die wir im Rahmen des Wahlorakels erheben vielleicht für ihre eigene wissenschaftliche Forschung benutzen. Zu guter Letzt glauben wir nicht dass unser Projekt überhaupt die Reichweite hat, um Wahlen zu beeinflussen. Das leiten wir von den Aufrufen unserer Webseite ab. Die Frage aus dem Titel lässt sich also nur bedingt beantworten. Es könnte sein, dass wir (so wie jede Prognose) ungewollt Wahlergebnisse beeinflussen, allerdings ist das nicht garantiert und durch unsere geringe Reichweite halten wir das als höchst unwahrscheinlich.
Sollte sich irgendetwas an diesen Umständen ändern, werden wir hier darüber berichten, um unser Projekt so transparent wie möglich zu gestalten. Da wir weder Geld mit diesem Projekt verdienen, noch Wahlergebnisse beeinflussen wollen appellieren wir an euren gesunden Menschenverstand und euer Verantwortungsbewusstsein. Wenn euer Wohnsitz in Bayern ist, dann geht zur Wahl und gebt eure Stimme ab – unabhängig von unserem Modell.
Quellen:
[1] Robert K. Merton, The self-fulfilling prophecy, in: The Antioch Review, Jg. 8, 1948
[2] https://uebermedien.de/9664/das-schlechteste-an-wahlprognosen-wie-wir-mit-ihnen-umgehen/